Im Auge des Esels
Über uns und die anderen TiereMitunter geschieht es, daß man sich am Rand einer Weide wiederfindet, soeben das Fahrrad oder den Motor abgestellt hat und nun an einem Zaunpfahl lehnt, sich fragt: Wie lange mag es her sein, daß ich mir Zeit genommen und die Kühe betrachtet habe, Zeit, die diesen Kühen dort zweifellos gebührt? Wieviele Wochen und Monate habe ich zu bewundern versäumt, mit welcher Eleganz sie ihre mächtigen Körper über die Wiese bewegen, mit welcher Gelassenheit sie den Elementen gegenübertreten? Nicht von den biologischen und anatomischen Fakten des Phänomens „Kuh“ ist hier die Rede, staunenswert wie die sind, denn wer außer ihr bewegte sich mit vier Mägen durch die Welt, sondern von ihrer schieren, unwiderstehlichen Präsenz: Gibt es ein Geräusch, das dem gemütvollen, dumpfen Rupfen saftigen Grases ähnelte? Wie huldvoll ihr Quastenschwanz aberhunderte von Fliegen vertreibt, ohne daß sie angesichts der Quälgeister je ihren Gleichmut verlöre; wie edel die Form ihres Kopfes, wie gelenkig, geradezu artistisch ihre riesige Zunge, wie weich und glänzend Maul und Schnauze ... Und wie eine ganze Herde uns betrachtet, sind wir, allzu eilige Wesen, einmal in ihr Blickfeld geraten, das ja die Welt ist, mit welch überzeitlicher Ruhe sie sich zu fragen scheinen, was für seltsame Mit-Kühe es sein mögen, die auf zwei oder gar vier Rädern von links nach rechts, von rechts nach links sausen, röcheln, puckern und dröhnen. Manchmal wirken die Kühe, still auf ihrem Fleck verharrend, kauend und zufrieden schnaufend, angesichts unserer Ungeduld und unserer Flüchtigkeit geradezu erstaunt, daß wir überhaupt noch da sind.
Und wirklich waren wir ja eine Weile verschwunden, wenn auch nicht ganz und gar und nicht lange genug, wirklich sperrten wir uns drei pandemische Jahre ausnahmsweise selber ein und verschafften der geschundenen Natur so eine kleine Atempause, beziehungsweise, denn so bezeichnen die Gelehrten die vorübergehende Abwesenheit des Menschen: eine Anthropause. Plötzlich traten sie alle wieder hervor, auf allen Kontinenten, wagten sich neugierig in die Siedlungen vor und sogar mitten hinein in die Städte: Die Jaguare Südamerikas, die Rehe, Wildschweine und Ziegen; die Pumas in Santiago de Chile, die Elefanten in Botswana, die Malabar-Zibetkatze in Indien, dazu die Stachelschweine und die Florida-Waldkaninchen. In der Tejo-Mündung in Lissabon tummelten sich die Tümmler, und in den Gewässern rund um Hongkong tauchte der Rosafarbene Delfin aus seinem Unterwasserexil auf – als wäre ein Bann gebrochen, ein böser Fluch von den Dingen genommen worden. Und wenn es sich nicht um eine gut erfundene Geschichte handelt, so stellten die nicht als Stimmvirtuosen berühmten Sperlinge von San Francisco, weil die Stadt auf einmal nicht mehr lärmte und dröhnte und diese plötzliche Stille ungeahnte akustische Freiheiten bot, das unmelodische Tschilpen ein und begannen zu modulieren, ungeahnte Tonleitern zu testen, begannen wahrhaftig zu singen.
Es hatte etwas Erhebendes, diese Nachrichten aus der Rubrik „Vermischtes“ zu verfolgen und zu sammeln, es schien, als werde, wenn auch nur vorübergehend, eine uralte Ordnung wiederhergestellt. Wir haben die Hierachien ja wohl strukturiert, mit uns stets an der Spitze der Pyramide, haben die Nahrungsketten mit Bedacht so organisiert, daß das Lammfilet, hübsch verpackt, verläßlich in unserem Einkaufskorb und auf unserem Teller landet. Zum Glück aber treten Wisente und Elche auch jenseits der Seuchenzeit über die Grenzen, die ihnen rein gar nichts bedeuten – und nicht nur sie. Die unvermutete Rückkehr der Wildnis, des Ungeordneten, dessen, was sich nicht einschweißen und mit einem Barcode versehen läßt, muß uns folglich irritieren. Und so kommt es, wie wir alle wissen, zu teils heftigen Trotz- und Abwehrreaktionen; die getöteten und verstümmelten, zur Schau gestellten Luchse im Bayerischen Wald sind da nur das scheußlichste Beispiel. Aber auch manch ein Tierfreund wirft, allein zwischen Bäumen spazierengehend, nervöse Blicke über die Schulter, pfeift ein bißchen lauter und klatscht gelegentlich in die Hände, seit immer neue Gerüchte von Wolfsrudeln von Dorf zu Dorf gereicht werden und man mit Unbehagen die Bilder gerissener Schafe in der Lokalzeitung betrachtet. Mit einem Mal ist der einladende Pilzsammlerforst wieder der alte Rotkäppchenwald, ein unwägbares Dunkel, in dem es lauert und knurrt, eine grundsätzliche und nicht zu kartographierende Bedrohung. Die menschliche Urangst vorm Wald, vorm Verlaufen, vor dem Hunger der Natur, die etwa in den Grimmschen Märchen noch deutlich zu spüren ist, war ja spätestens mit der Renaissance gewichen und Teil einer Gartenkultur geworden, wo inmitten der wohlgeordneten, eingehegten Natur lediglich der Irrgarten als geometrisch perfekt arrangiertes Echo dieser Urangst vorm Wald übrigblieb – eine sorgfältig geschnittene Einladung zu wohligem Erschauern, immer mit der Garantie natürlich, pünktlich und unbeschadet zu Rotwein, Kuchen und Großmutter zurückzukehren. Nun hingegen suchen Wald und Wildnis uns heim, tragen zumindest ein bißchen Chaos und Gefahr und Unberechenbarkeit in unsere Ski- und Wanderurlaube, das verstörende Gefühl, gewaltigen, älteren und unbegreiflichen Mächten schutzlos ausgeliefert zu sein, neben der Deutschen Bahn nun also auch den Braunbären.
Gelegentlich kommt es vor, daß die Toten zurückkehren aus ihren Gräbern. Man spricht vom Lazarus-Effekt, wenn ein Tier, das längst als ausgelöscht galt, erneut gesichtet wird, sich wieder mitten unter uns bewegt, und wirklich: Bedarf es nicht eines nahezu biblischen Wunders, um uns zu überleben? So steckte vor einigen Jahren der Kantschil, auch Maushirsch genannt, seine reizende Schnauze aus dem vietnamesischen Dschungel. Den Beleg seiner hartnäckigen Fortdauer lieferte eine Kamerafalle – zweifellos der erfreulichste Hinterhalt, den die Menschheit sich ausgedacht hat, weit sympathischer als Reuse, Fallgrube, Fangsteine, Tellereisen oder Fliegenpapier. Auch könnte ein Trost darin liegen, daß Biologen Jahr um Jahr abertausende neuer Tier- und Pflanzenarten entdecken; wahrscheinlicher aber ist, daß wir auf mehr und mehr stumme Anklagen stoßen werden wie jenes traurigste aller Dioramen in einem ehrwürdig-staubigen Naturkundemuseum in Mitteleuropa: Ein einsamer, ausgestopfter Wolf in künstlichen Schneeverwehungen, starr und naphthalinduftig, vor einer Tapetentundra in unbeholfenen Ölfarben und unter einem ewigen 40-Watt-Mond; eine Lichtschranke sorgt dafür, daß dem Betrachter, tritt er näher heran, ein schepperndes Wolfsgeheul aus einem Lautsprecher ins Ohr fährt, ihn aber nicht täuschen wird: Nein, diese Augen aus Glas in einem mit Sägespänen und Holzwolle gefüllten Balg nehmen nichts mehr wahr.
Von dem englischen Dichter und Kunsthistoriker John Berger gibt es einen sehr lesenswerten Essay, dessen Titel eine Frage ist: „Warum sehen wir Tiere an?“ Tiere, so eine von Bergers Antworten, würden zwischen dem Menschen und seinem Ursprung vermitteln; indem der Mensch den Blick des Tiers erwidere, werde er sich seiner selbst bewußt – was freilich durch das Zurückdrängen fast aller Tiere an den Rand und durch die Einteilung in Nutz oder Haustier kaum mehr möglich sei. „Tiere“, so Berger, „vermittelten zwischen dem Menschen und seinem Ursprung, weil sie dem Menschen ebenso gleich wie ungleich waren“. Ein Zoo müsse da enttäuschen (ein Diorama sowieso), denn der Reaktion der Tiere könne man sich in einer solch unnatürlichen Umgebung nicht aussetzen; der Blick eines Tiers im Zoo flackere nur noch schwach, sei keine Erwiderung mehr, wende sich sofort anderen Dingen zu. Vor kurzem erst mußte ich wieder an Bergers Essay denken, als wir im Umland von Berlin, zu einem Fest- und Gedenkessen versammelt, auf der Terrasse saßen und plötzlich bemerkten, wie oben im Kirchturm, in der Öffnung direkt unter der Spitze, die weißen, maskenhaften Gesichter dreier Schleiereulen erschienen, Schicksalsgöttinnen, die hoch über uns thronten und uns aufmerksam betrachteten, im Gegensatz zu uns keinerlei lachhaftes Hilfsmittel, kein Fernglas benötigten.
Es gab keinen Zweifel, daß sie mehr an uns als an den Filetsteaks auf unseren Tellern interessiert waren. Es ist Zeit, schienen diese magischen Wesen uns zu sagen; es ist an der Zeit, den Blick zu weiten, euch selbst nicht länger als Zentrum, vielmehr als Teil der Welt zu begreifen. Haltet euch nicht für weiser als jene Völker, die ihr primitiv nennt, sagten die Eulen, vertraut euren eigenen Alten, lest Herodot: „Alle Tiere, die es in Ägypten gibt“, schrieb der, „gelten als heilig.“ Vielleicht, wer weiß, waren es immer schon die Dichter, die dieser Anschauung am ehesten entsprochen und die Tiere als ihresgleichen betrachtet haben, ob Seamus Heaney und Francis Ponge sich der Amsel widmen, John Keats der Nachtigall oder Eugenio Montale dem Wiedehopf, ob Elizabeth Bishop und Ted Hughes einen Fisch loben, Les Murray eine Qualle oder, tatsächlich, eine Herde von Kühen. Und war es nicht Karen Blixen, die testamentarisch die eine Hälfte ihres Vermögens den Dichtern, die andere hingegen den Vögeln vermachte?
Es ist die Sprache, grundiert von Phantasie und Empathie, es ist die poetische Sprache, die uns eine Annäherung an all die anderen Wesen auf dieser sonderbaren Erdkugel gestattet – oder uns doch wenigstens momentlang glauben läßt, eine solche Annäherung sei möglich, denn ein „Abgrund des Nicht-Verstehens“, so abermals John Berger, klaffe zwischen Tier und Mensch. Zwischen Mensch und Mensch könne die Kluft mittels der Sprache überbrückt werden, aber die fehlende geteilte Sprache mit den Tieren bedinge nun einmal Distanz, Verschiedenheit, Ausgeschlossenheit – sofern man nicht, wie es in einem Text des irischen Dichters, Krähen- und Eulenliebhabers Matthew Sweeney geschieht, eine Insel entdeckt, deren autochthone Pferde nicht nur Irisch zu sprechen, sondern gar Irisch zu singen imstande sind. Wirklich scheint es ja manchmal, als sei ein Dialog möglich, ganz besonders, wenn ein Esel beteiligt ist – schönstes der Tiere, das genau weiß, wann zu verharren und kein Boden preiszugeben ist, das jeden unsichtbaren Pfad findet und weder Schwindel noch Schwindel kennt. Es kann ja kein Zufall sein, daß das französische Wort für Seele, „âme“, fast identisch mit jenem für Esel ist, „âne“, und daß auch im Deutschen das Wort „Esel“ beinahe ein Anagramm von „Seele“ ergibt. Und diese Seele glaubt zu erkennen, wer in das herrliche dunkle Auge eines Esels blickt – oder Caravaggios Bild „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ in der Galleria Doria Pamphilii in Rom betrachtet, auf dem zwischen Joseph und dem Engel, aus dem Bildhintergrund, aber eigentlich als Zentrum des Gemäldes, das Auge des Esels den Besucher in seinen Bann zieht, ihm seine Ruhe schenkt. Ich selbst wiederum verdanke dem Gespräch mit einem Esel einen kleinen Garten unweit von Berlin, in dem grundsätzlich alle Tiere willkommen sind. Nach der Besichtigung des Gartens, der zum Verkauf stand, auf dem Fußweg zurück zum Dorfbahnhof, kam ich an einer Koppel vorbei, an dessen Zaun ein freundlicher Esel auf mich wartete. Und, fragte ich ihn, was meinst du, würdest du es wagen und diesen Garten erwerben? Woraufhin der Esel mich sehr ernsthaft ansah und dann nickte, nickte, nickte. Heute sind wir Nachbarn, und gelegentlich bringe ich ihm zum Dank ein paar Äpfel aus dem Garten vorbei. Was die Köstlichkeit dieser Äpfel angeht, so sind wir uns, ganz unter Eseln, vollkommen einig.