Zerschnittene Welt. Stadt & Land | Tag 3
Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.Es geht um die Stadt und um unsere Zukunft!
Das Panel an diesem zweiten Festivalmorgen in der Kremser Minoritenkirche, bestehend aus Osamu Okamura (Liberec) sowie Bernadette Sarman und Fariza Bisaeva (beide Wien), beschäftigt sich mit dem Thema: Stadt und (gelingende) Integration. Die beiden jungen Autorinnen sind Teilnehmerinnen eines Projekts der europäischen Jugendbegegnungen (Eljub), dessen Ergebnisse der Band „Erzähle mir von hier, ich erzähl dir von anderswo“ (hg. von Veronika Trubel und Walter Grond, Karl Rauch Verlag, 2024) versammelt.
Zunächst präsentiert Osamu Okamura, Architekt und Dekan der Fakultät für Kunst und Architektur der Technischen Universität Liberec, sein mehrfach ausgezeichnetes Sach-Bilderbuch für Kinder und Erwachsene „Die Stadt für alle: Handbuch für angehende Stadtplanerinnen und Stadtplaner“ (Karl Rauch Verlag, 2022). Darin zeigt er Städte, wie sie wirklich sind: in ständiger Veränderung, voller Konflikte zwischen Menschen mit unterschiedlichen Interessen, jedoch vor allem als lebendigen, transformierbaren Raum. Das würde durchaus als provokativ wahrgenommen. Sein Vortrag über erfolgreiche und nicht erfolgreiche Städte oder die unterschiedlichen Maßstäbe zur Feststellung der Lebensqualität in Städten hob vor allem die Bedeutung jedes und jeder Einzelnen beim Mitgestalten des urbanen Raums hervor.
Im Gespräch mit Fariza Bisaeva und Bernadette Sarmann fragt Moderator Hans Koch zunächst nach ihren persönlichen Einschätzungen, was das Leben in Wien, ihrem heutigen Wohnort, von dem in ihren Herkunftsländern betrifft. Bisaeva spricht etwa darüber, dass sie sich in Tschetschenien, das stark vom Krieg geprägt ist, keine Wohnung leisten könnte, was sie in Wien dank des sozialen Wohnbaus könne. Sie sei allerdings zum letzten Mal in Tschetschenien gewesen, als sie drei Jahre alt war, daher sei das Land für sie eher auf einer emotionalen Ebene bedeutsam. Sarmann hebt die vielfältigen Möglichkeiten des urbanen Raums hervor. Während es in Japan einen stärkeren Fokus auf soziale Umgangsformen wie Höflichkeit gebe, sei es hingegen schwieriger, Freundschaften und Kontakte zu knüpfen.
Fariza Bisaevas Text im vorgestellten Sammelband dreht sich um geteilte Rassismuserfahrungen, von denen auch die anderen Podiumsgäste berichten können. Dabei geht es auch um die Unterschiede der Wahrnehmung von als „anders“ gelesenen Menschen auf dem Land und in der Stadt. Sarmann bestätigt das, ihr Vater ist Kärntner, und in Kärnten könne sie kein Wirtshaus betreten, ohne dass Stille herrsche und die Leute sie anstarren. So bewusst wie dort sei ihr das „Anderssein“ in Wien normalerweise nicht. In der Stadt sei es zwar besser, ergänzt Bisaeva, der Rassismus sei aber trotzdem vorhanden, nur subtiler. Auch Osamu Okamura sind Rassimuserfahrungen im Alltag nicht fremd. Die Distanz, die dabei hergestellt werde, sei ihm aber manchmal sogar angenehm, weil sie ihm erlaube, manche Dinge schärfer zu betrachten.
In dem von Bernadette Sarmann gelesenen Auszug aus der Anthologie geht es um den Besuch der Leipziger Buchmesse im Jahr 2023 mit dem Gastlandauftritt Österreichs. Das Besondere an diesem Besuch seien die Begegnungen und der Austausch mit Autor:innen und die Dynamik innerhalb der Gruppe gewesen.
Beim Thema Stadt und Migration, und der Frage danach, wie das Leben in der Stadt besser organisiert werden könnte, um Integration zu verbessern, betont Bisaeva die Wichtigkeit von Bildung und die hohe Vererbbarkeit von Bildung in Österreich – sie betone immer, sie habe es trotz des Bildungssystems in Österreich geschafft aufzusteigen, nicht wegen des Bildungssystems. Einig sind sich die Podiumsgäste auch darin, dass Barrieren für Menschen mit diversen Hintergründen abgebaut werden müssten, denn für viele Menschen gäbe es etwa eine große Hemmschwelle, etablierte (Kunst-)Räume zu betreten. Ein Aufruf, Stadt für alle zu gestalten.
KremsMachtGeschichte
Nach dem Mittagessen begrüßt der Kulturamtsleiter und Leiter des museumkrems, Gregor Kremser, die Teilnehmer*innen zu einem Spaziergang zu zeitgeschichtlich bedeutsamen Plätzen rund um den Südtiroler Platz im Zentrum der Stadt. Unter dem Titel “KremsMachtGeschichte” wurde ein zeitgeschichtlicher Themenweg eingerichtet, der an 24 historische Schauplätze führt. Zu einer kleinen, aber durchaus repräsentativen Auswahl dieser Stationen führen Gregor Kremser und Max Dietrich die Teilnehmer*innen in zwei Gruppen rund um den Platz am Steiner Tor. Jeder Stadt tue ein solcher Themenweg gut, so Dietrich, aber Krems habe ihn ganz besonders gebraucht. Er erinnert daran, dass Krems 1938 Hauptstadt des Gaus Niederdonau wurde, aber schon früher, 1932, die erste Stadt mit einem nationalsozialistischen Bürgermeister war. Beginnend am ehemaligen Wäschegeschäft Neuner, das nach 1938 zu jenen jüdischen Geschäften gehörte, deren Besitzer enteignet und vertrieben wurden, über den einzigen zivilen Neubau aus der Zeit des NS-Regimes, den Brauhofsaal, spazierte die Gruppe zum Karl-Eibl-Denkmal, dem einzigen Denkmal für einen General der Wehrmacht im deutschen Sprachraum und schließlich in einen der Widerstandskämpferin Therese Mahrer gewidmeten Park. Wie Erinnerung vergeht und welche Auswirkungen dies auf die Gedenkkultur einer Stadt hat, aber auch, wie sehr diese von der Politik und den jeweils Regierenden geprägt und beeinflusst wird, wird bei den Stationen auf ganz unterschiedliche Art und Weise deutlich. Ein einziger Kremser Jude, erzählt Max Dietrich, sei nach dem Zweiten Weltkrieg in die Stadt zurückgekehrt und ist hier in den 1970er Jahren gestorben. Geschichte wurde ausgelöscht und zu überschreiben versucht - umso wichtiger ist es, auf dieses dunkle Kapitel der Geschichte von Krems hinzuweisen und von teils vergessenen, teils zerstörten, teils aber auch fortdauernden Spuren der Zeit des Nationalsozialismus zu erzählen. Der Spaziergang endet im museumkrems.
In der Nacht von heute, dem 9., auf den 10. November, jährt sich die Reichspogromnacht zum 86. Mal, erinnert Gregor Kremser im ehemaligen Kreuzgang des Dominikanerklosters, der heute Teil des Museums ist. Er stellt den Musiker und Dichter Nicolas Robert Lang vor, der in seinen Liedern Gesellschaftskritik mit Poesie verbindet und das Publikum zum Nachdenken, zum Weiterdenken anregt und das eben auf dem Spaziergang Erfahrene in einen künstlerischen Kontext stellt. Im Anschluss an das eindrückliche Konzert gibt das Weingut der Stadt Krems Einblicke in eine weitere Kunst, für die diese Stadt weltberühmt ist: die des Weinbaus, und lädt zu einer Verkostung ein.
Landleben, eine Idylle?
Wie in den letzten Jahren durften wir mit unserem Podcast “Auf Buchfühlung” einen Bücher-Talk gestalten. Zurück in der Minoritenkirche begrüßten wir die Autorinnen Lorena Simmel und Alina Herbing auf der Bühne, die beide aus Berlin angereist sind, aber das Landleben auch aus eigener (Kindheits-)Erfahrung kennen.
Lorena Simmel ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen - und als Saisonarbeitende für einige Monate wieder in ihre Herkunftsregion im Schweizer Seenland zurückgekehrt. Die Erfahrungen, die sie bei dieser Arbeit gemacht hat, aber auch die Beziehungen zu osteuropäischen Saisonarbeitenden, die sie geknüpft hat, sind in ihren Debütroman “Ferymont” (Verbrecher Verlag, 2024) eingeflossen, der eine Region im Herzen Europas porträtiert und mit viel sprachlichem Feingefühl die kapitalistischen Arbeitsbedingungen hinterfragt und die Geschichten von Saisonarbeitenden in den Mittelpunkt stellt. Im Gespräch erzählt sie von ihrem Blick auf das Land, der sich durch das Schreiben am Roman verändert hat, von ihrem Versuch, solidarisch zu erzählen und von konkreten Erlebnissen in der Landschaft hier um Krems, wo sie sich sogar vorstellen könne, einmal zu leben - das macht sie zumindest in dem sympathischen Gespräch glaubhaft.
Alina Herbing hat sich mit “Tiere, vor denen man Angst haben muss” (Arche Verlag, 2024) schon zum zweiten Mal literarisch mit dem Land auseinandergesetzt. In dem Roman über eine Familie, die nach der Wende knapp hinter die ehemalige Grenze in den Osten gezogen ist, wo sich die Mutter ihren Traum vom antikapitalistischen Leben auf dem Land verwirklichen wollte, seziert Herbing das vermeintliche Idyll konsequent. Nicht nur löst sich die Familie zunehmend auf, während Tiere das marode Haus erobern und die Natur beginnt, die Gebäude - und damit die Zivilisation - zu verschlingen. Sondern auch Kälte macht sich breit: eine reale im Haus, eine emotionale bei der Mutter, die ihre Kinder zunehmend verwahrlosen lässt und ihren Fokus ganz auf die Tiere in der von ihr betriebenen Auffangstation widmet. Herbing, die als Kind mit ihrer Familie von der Stadt aufs Land gezogen ist, berichtet, was diese Veränderung für sie bedeutet hat und was diesen Stoff für sie als Autorin nach wie vor attraktiv macht. Sie erzählt von der Dynamik zwischen den Romanfiguren und den politischen Verhältnissen in der Grenzregion zwischen Ost und West und hält auch fest, dass die Kluft zwischen Stadt und Land zwar sicher in manchen Bereichen gegeben sei, aber ihrer Meinung nach keineswegs so umfassend, wie er immer wieder behauptet wird.
Von brasilianischen Straßenarbeitern und bulgarischen Todestränken
Die stimmungsvoll-atmosphärischen Klänge des „Trio Lumi“ eröffnen diesen letzten Festivalabend mit gefühlvollen bis lebendigen Violinen, Cello und Gesang. Das Trio repräsentiert die Vielfalt europäischer Kultur nicht nur durch ihre internationale Besetzung, sondern auch durch die sorgfältig für diesen Abend ausgewählten Musikstücke – von skandinavischen Hochzeitstänzen bis hin zu ungarischen Liedern. Literarisch geht es an diesem Abend um die Unsichtbaren in den Städten. Einerseits begeben wir uns in die Elendsviertel von São Paolo, andererseits zu den Frauen in den Vorstädten Sofias, die allein sind, weil ihre Männer im Westen arbeiten.
Patrícia Melo gilt als eine der wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. In ihrem neuen Roman „Die Stadt der anderen“ (aus dem Portugiesischen übersetzt von Barbara Mesquita, Unionsverlag, 2024) porträtiert sie Obdachlose in São Paolo, die in unmittelbarer Nähe der Superreichen in ihren abgeschirmten Residenzen leben. Im Gespräch mit Moderatorin Veronika Trubel gibt die Autorin erhellende Einblicke in eine allzu oft übersehene und geringgeschätzte Lebensrealität. Das Vorurteil etwa, Obdachlose würden faul sein und nicht arbeiten, entkräftet sie mit dem Hinweis, welch große Distanzen diese Menschen täglich zu Fuß zurücklegen müssten, wie viel unbezahlte Arbeit sie täglich verrichteten – vom Saubermachen bis hin zum Parkplatzbewachen – und letztlich müssten sie sich jeden Tag von Neuem überlegen, wo sie übernachten und wo sie etwas zu essen bekommen könnten. Das Schreiben dieses Buchs sei besonders schmerzvoll gewesen, da diese Menschen so übersehen werden – sie bekommen nur Aufmerksamkeit, wenn Gewalt gegen sie ausgeübt wird. Es sei nie eine freie Entscheidung, auf der Straße zu leben, denn Obdachlose seien „gefangen in Freiheit“.
Die Frage der Ungleichheit in Brasilien sei dabei sehr klar, das Elend sei überall und sehr sichtbar. Ihre Motivation war es, die Situation der Obdachlosen in ihrem Land zu verstehen, indem sie darüber schrieb. Befragt nach den Unterschieden zwischen São Paolo und einer europäischen Großstadt, meint sie, Brasilien sei fast wie ein eigener Kontinent, die Probleme seien daher kontinentale Probleme (in São Paolo allein leben 22 Millionen Menschen). Die Gewalt in Brasilien ist strukturell und man lerne von klein auf, mit der Gewalt umzugehen und sich davor zu schützen.
Nach der eindringlichen Lesung aus dem Roman durch Schauspielerin Dörte Lyssewski und einem musikalischen Zwischenspiel geht es weiter mit Zdravka Evtimova, die aus Pernik, Bulgarien, nach Krems angereist ist. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, zuletzt auch ins Deutsche mit dem Band „Maulwurfsblut“ (aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner, Alexander Sitzmann und Elvira Bormann-Nassonowa; eta Verlag, 2024), um den es heute Abend geht.
Es handle sich um starke, vierdimensionale Frauen, die die Autorin beschreibt, und von denen auch Moderatorin Viktoria Trubel sichtlich begeistert ist. Woher diese Figuren stammen? Die Wahrheit leite Evtimova beim Schreiben an. Es sind Geschichten, die sie den Menschen sozusagen von ihren Gesichtern abliest. Manchmal passiere es ihr, dass sie Menschen auf der Straße begegnet und in ihnen so viele Geschichten sieht. Dann lade sie sie auch manchmal zum Kaffee ein. Umgekehrt wird sie oft von Leuten zum Kaffee eingeladen, die ihre Geschichten mögen – „das ist auch eine Art von Literaturkritik“.
Die Frauen in Bulgarien seien nie untergeordnet gewesen, höchstens die Liebe würde sie zeitweilig an einen Mann binden. Immer schon haben sie die Dinge selbst in die Hand genommen, das wird durch Zdravka Evtimovas lebendige Anekdoten mehr als deutlich. Erfrischend lakonisch erzählt sie etwa von einem speziellen Kräutersud, der unter den Frauen der Region ein erprobtes Mittel sei, um sich an gewalttätigen Männern zu rächen. Auch der Weg für sie selbst zur Schriftstellerin sei nicht unbedingt leicht gewesen – ihre Mutter hatte ihr kein Geld für eine Schreibmaschine geben wollen, sondern meinte, sie solle doch in den Wald gehen und Hagebutten sammeln, so könne sie Geld für eine Schreibmaschine verdienen. Auch das Publikum und die anderen Bühnengäste sind begeistert vom lakonischen Witz der Autorin, deren Anekdoten man wohl noch viel länger lauschen könnte.
Insgesamt ist es ein wunderbar vielfältiger Abend, geprägt von ausgesprochen klugen Autorinnen, anregend-humorvollen Gesprächen und stimmungsvoller Musik. Und ein gebührender letzter Elit-Festivalabend hier in der Kremser Minoritenkirche.