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Europa – Wir sind nicht allein. Wir sind Europa | Europa nach Corona

Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird.
Veronika Trubel

Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?

Ich will derzeit nicht nach vorne schauen. Ich möchte nicht einmal versuchen vorherzuahnen, wie Europa nach der Pandemie aussehen wird. Erstens, weil im heurigen Coronajahr sowieso kaum etwas planbar war und ist. Zweitens, weil man vor lauter Blick nach vorne nicht über die Gegenwart stolpern sollte.

Wie geht es uns? Wie geht es mir mit Europa jetzt? Ich muss hier ein bisschen ausholen.

Seit acht Jahren darf ich in einem wunderbaren internationalen Team die europäischen Jugendbegegnungen eljub mitgestalten. Mehrmals im Jahr begleiten wir wechselnde internationale Gruppen Jugendlicher zu Gespräch und Austausch. Ursprünglich nur in Österreich, seit einiger Zeit auch in anderen Ländern. Im Hintergrund agieren Erwachsene. Auch wir freuen uns auf einander. Heuer kam einiges anders. Bei unserer zentralen Projektwoche im August mit Jugendlichen aus zehn Ländern musste beinahe die Hälfte der Anreisenden aus vier Ländern wegen der Corona Reisebeschränkungen kurzfristig absagen. Erkenntnis: Wir haben sie vermisst, wirklich vermisst, obwohl sie online dabei waren. Dieses Vermissen ging einher mit einer überraschender Freude am Gefühl dieses Mangels.

Dieses Gefühl begleitet mich seither. Seit wir mit eljub reisen, erlebe ich Europa, speziell Zentraleuropa, immer mehr als gemeinsames kulturelles Feld, als gleichsam unterirdisch durch tiefe Wurzeln verbunden, und zwar aus einer Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und noch davor. Da ist etwas, das die Trennung und das zweifellos Trennende durch große Kriege und Konflikte, durch die Jahrzehnte des Eisernen Vorhangs und sehr unterschiedlich gewachsene demokratische und wirtschaftliche Verhältnisse still überdauert hat. Es zeigt sich in Namen, Worten, Ausdrücken, in historischen Alltagsgegenständen, in Redensarten und natürlich im Humor.

Jetzt, Anfang November, poppte dieses Gefühl noch einmal ganz woanders auf. In der Terrornacht in Wien am zweiten November, als uns geraten wurde, in den Häusern zu bleiben, als wir nicht wussten, wie viele Schwerbewaffnete durch unsere Stadt zogen und wer unter den Toten und Verletzten war, als wir wie betäubt vor den ersten Nachrichten saßen, kam eine Twitternachricht des französischen Präsidenten Emmanuel Macron: „Wir, Franzosen, teilen den Schock und die Trauer von der Österreicher nach einer Angriff in Wien. Nach Frankreich ist es ein befreundetes Land, das angegriffen wird. Dies ist unser Europa.“ Wackeliges Deutsch, bekundete Nähe. Und das Gefühl: Wir sind nicht allein mit diesem Schrecken. Wir sind Europa.

Ja, und wenn wir Europa sind, dann sind wir allerdings eine reichlich zerfranste Großfamilie. Wir sind dann auch Großbritannien und Polen und Ungarn, alles, was uns derzeit schreckt und irritiert, wir sind Frankreich, Belarus, die Ukraine und ein Stück weit Türkei. Beziehungen sind ja etwas kompliziertes. Zum Komplizierten in dieser zerfransten Verwandtschaft gehört unbedingt immer noch die Begeisterung und nachfolgende Enttäuschung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wobei sich letztere der Hoffnung auf ein vereintes Europa mancherorts gern breit in den Weg setzt. Und nun geht für uns alle in Europa ein zügig dunkler werdender Coronaherbst in einen Winter über, der stiller zu werden droht, als wir es gewohnt sind. Wir wissen wenig von den Menschen um uns herum und noch weniger von denen in anderen Ländern. Wir ahnen um Existenzsorgen hinter Wohnungstüren und die vielleicht noch quälendere Angst davor.

Erinnern wir uns an die Euphorie und überschäumende Wiedervereinigungsbegeisterung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Erinnern wir uns an die allmähliche Ernüchterung und an die Jahre und Jahrzehnte danach, in denen sich der Alltag zunehmend anders taktete. Bald hatten wir Handys, dann Smartphones, erst einen, dann mehrere Social Media Accounts, und zügig überholten uns darin unsere Kinder. Das Leben wurde schneller, mobiler, globaler, und wer bei all dem nicht richtig mitzog, fiel erst auf und dann zurück. Wie überrollt mögen sich manche fühlen, die nun auch politisch nach gestern und vorvorgestern streben? Und wie lange läuft das schon, dass Google, Siri und Alexa alles wissen und wir ihnen so vieles glauben, auf das wir anderswo bessere Antworten fänden? Das sind Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Dazwischen das Virus.

Aber dazwischen eben auch dieses Gefühl, das ich bei den eljub Treffen ebenso verspüre wie in der schrecklichen Novembernacht in Wien. Wir sind, was wir leben. Die allermeisten Menschen wollen vermutlich dasselbe: ein Leben in Frieden und Freiheit, demokratische Grundrechte, ehrlich bezahlte Arbeit, ein Zuhause, solide Gesundheits- und Altersversorgung, eine Zukunft für die Kinder. Wir schaffen das Europa, in dem wir leben. Menschen, die sich dafür engagieren, kommen auf uns zu und es ist gut, ihnen entgegen zu gehen. Und wir können in diesen Zeiten der Pandemie auch Erleichterung empfinden, dass es diesmal kein Eiserner Vorhang ist, der uns trennt.

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