Text

Verteidigung des Kontinents | Europa nach Corona

Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird.
Helena Janeczek

elit Literaturhaus Europa ladet europäische Autorinnen und Autoren dazu ein, diesen Blick unter dem Eindruck der Krise zu wagen.

Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird. Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?

Als Italien eine Ausgangssperre verhängte, war in den Niederlanden von "Dummheit und Melodram" die Rede. An nationalen Klischees wie diesem wird Europa scheitern.

Als er spät abends nach Hause radelt, meldet sich der Chefarzt der Notaufnahme eines großen Krankenhauses nahe der Autobahn Mailand-Bergamo auf meine besorgten Nachrichten. Seine Eltern waren die engsten Freunde meiner Eltern, nein, noch mehr: sie waren unsere Adoptivfamilie, die uns ein Leben lang die in Auschwitz ermordete Familie ersetzte. Er und seine Brüder kennen mich, seit ich auf der Welt bin.

Sandro ist ein magerer Mann mit einem strengen Gesicht, das den Christus-Figuren alter spanischer Meister ähnelt, doch einen trockenen Humor und eine Abscheu vor rhetorischen Übertreibungen hatte er schon immer. Jetzt aber spricht er von "Dantes Inferno", greift zur Metapher der Hölle, von der er dachte, dass es sie nicht gäbe. Bald ist sein Ton wieder gefasst, auch als er die schreckliche Routine seiner Anrufe bei den Angehörigen zu Hause beschreibt, die ihren Verwandten nicht nahe sein dürfen. Kurz vor Schluss des Gesprächs fällt ein Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. "Wenn das alles zu Ende ist, gibt es in jeder Familie ein, zwei Tote."

Dieses Telefonat fand am 17. März statt, bezeugt das Display auf meinem Handy. Ein Tag, an dem die offizielle Zahl der Toten in Italien niedriger war als in China. Zwei Wochen her, die wie eine Ewigkeit erscheinen.

Zeit, um sich dem Trauma und der Trauer zuzuwenden, gibt es noch nicht

Tag für Tag hat dieser unfassbare Satz hier in der Lombardei mehr Wirklichkeit gewonnen. Tag für Tag muss ich mit der Angst umgehen, dass Sandro, seine Frau Laura und seine Tochter Marta, alle drei im Einsatz in Mailänder Krankenhäusern, am Virus erkranken. Mehr als sechzig italienische Ärzte starben bereits, eine junge Krankenschwester nahm sich das Leben. Pensionierte Mediziner, darunter auch Laura, haben den Dienst freiwillig sofort wieder aufgenommen, aber es sind dennoch viel zu wenige. Jetzt haben sich fast achttausend Ärzte und rund zehntausend Pfleger bereit erklärt, ihre ausgebrannten Kollegen zu entlasten. Damit haben sie hoffentlich Zeit, sich auszukurieren. Zeit, um sich dem Trauma und der Trauer zuzuwenden, gibt es noch nicht.

Auch wenn mir als Kind von Holocaust-Überlebenden vermittelt wurde, dass die Katastrophe stets irgendwo lauert, hätte ich mir vor ein paar Wochen nicht vorstellen können, dass ich mich so rasch auf einen Überlebensmodus umstellen würde. Es geht nicht um das Händewaschen, Klinkenputzen oder so rasch wie möglich auf Vorrat Einkaufen, woran es mangelt: Schutzmasken, Desinfektionsmittel und so weiter. Der riskanteste Mangel war der an Vorstellungskraft. Das war bei mir, trotz meines Engagements für Flüchtlinge, Kriegsopfer und Verfolgte, im Grunde nicht anders als bei meinen Mitmenschen jeder politischen Couleur. Sich seinen Alltag in der Lebensgefahr einrichten, wer kannte das schon?

Jetzt zähle ich, obwohl ich in der weniger betroffenen Provinz Varese bei Mailand lebe, täglich meine "Untergegangenen und Geretteten", wie Primo Levi sie nannte. Gestorben: der vielgeschätzte ehemalige Pfarrer der Gemeinde (und mit ihm bislang fast siebzig Priester), der wunderbare Dichter Mario Benedetti, etliche Großeltern von Freunden und Bekannten. Überlebt: der junge Mailänder Schriftsteller Jonathan Bazzi, dem aber der Geruchs- und Geschmackssinn nicht zurückkehrt, eine allein fiebernde Freundin, der ihre Nachbarn in Brescia den Einkauf vor die Tür stellen, zwei weitere Freunde im kritischen Alter über sechzig, die um ein Haar die Atemnot überwanden, ohne ins Krankenhaus zu müssen.

Die Madonna, die Nationalflagge und der "Shutdown": In dem Ort Vertova in der Nähe von Bergamo in Norditalien starben im März innerhalb von 23 Tagen 26 der 5000 Einwohner an der Corona-Epidemie.

Mein Nachbar im Haus, der Mann der ebenfalls erkrankten Physiklehrerin, den vorgestern ein Rettungswagen abgeholt hat, wird er durchkommen? Die Sirenen der Rettungswagen sind der einzige Ton, der die gespenstische Stille unserer Städte zerreißt. Man horcht, man schätzt, wie viele am Tag vorbeifahren. Rettungswagen klingen heute nach Untergang und nicht nach Rettung.

So sieht es aus in der reichsten, produktivsten Region Italiens. Es mangelt an Personal, an Labors, an Schutzmasken, an Sauerstoff, an Krankenbetten, vor allem in den bereits auf das Dreifache ausgebauten Intensivstationen.

Das Virus kümmert sich nicht um die Differenzen zwischen den Europäern

Die humanitäre Katastrophe resultiert in erster Linie aus einer Kombination dieser Mängel, die immer nur notdürftig behoben wurden, während sich das Virus mit exponentieller Geschwindigkeit verbreitete. Es gab freilich auch andere relevante Fehler. Zum Beispiel die anfängliche Fehleinschätzung durch die Politik aus Rücksicht auf die Wirtschaft, die kleinen, aber für die Produktion entscheidenden Landkreise Alzano und Nembro bei Bergamo nicht komplett zu isolieren.

Aber der Katastrophenfilm ist in allen Ländern Europas und der westlichen Welt nach fast demselben Drehbuch abgelaufen, trotz des mahnenden Präzedenzfalls Italien. Das hat wohl mit menschlichen Abwehrmechanismen zu tun und mit alten nationalistischen Stereotypen. Das, was in Italien passiert, droht uns bestimmt nicht. Die Italiener sind schludrig und undiszipliniert, leben in großen Familienverbänden und haben natürlich eine viel schlechtere Gesundheitsversorgung als wir. Ein britischer Kommentator sprach bei der Verhängung der Ausgangssperre für Italien von "Siesta machen", in den Niederlanden war von Dummheit und Melodram die Rede.

Das wirkt auf all diejenigen grotesk, die wissen, dass die wortkargen Menschen in der Lombardei und im Veneto ein Arbeitsethos besitzen, das dem deutschen in nichts nachsteht. Deshalb wählen sie mehrheitlich treu die Lega, die, bis zur nationalpopulistischen Wende

Salvinis, ihren rassistisch gefärbten Konsens auf der Abgrenzung des tüchtigen, produktiven Nordens vom faulen, schmarotzenden Süden basierte. Herzreißend war die Parlamentsrede des Lega-Abgeordneten Daniele Belotti aus Bergamo am 25. März. Ein großer Mann mittleren Alters, bezeichnenderweise in einen alpinen Janker gekleidet, der mit derbem Bergler-Akzent das Massensterben in seiner Provinz beschrieb und mit den Tränen kämpfte. Die Stimme brach ihm schließlich, als er die gewohnte Redewendung aussprach "noi bergamaschi non ci fermiamo mai". Wir, die Leute aus Bergamo, machen nie halt. Sein ganzer Heimatstolz zerstört von einem Mikroorganismus, der unaufhaltsamer ist als der fleißigste, verbissenste Bergamasco. Das ist tragisch.

Das Coronavirus schert sich wenig um die Differenzen, an denen Italiener, Europäer oder Menschen sonst wo ihre kulturelle Identität festmachen. Es verbreitet sich überall im selben Tempo, kann nur durch viele Betten auf Intensivstationen und schnelles Umlernen der Bürger, insbesondere des Gesundheitspersonals, effektiv verlangsamt werden. Von den Ersteren gibt es in Norditalien pro Einwohner mehr als in den Niederlanden oder in Großbritannien, wo die Lage von Tag zu Tag brenzliger wird.

Die Hilfe, heißt es, darf keinesfalls so aussehen, als sei sie bedingungslos

Ich bin jemand, der sich überall dort zu Hause fühlt, wo Menschen leben, die mir nahe sind. Also erleichtert es mich sehr, dass ich um meine Freunde in Deutschland weniger bangen muss als um die mir lieben Menschen in aller Herren Länder. Nur in Deutschland gibt es durchschnittlich mehr Intensivbetten, wodurch man Zeit gewinnen kann, damit der Tsunami von Erkrankten nicht das gesamte Gesundheitswesen überschwemmt. Dass etliche Bundesländer, darunter auch Bayern, schwere Fälle aus Italien aufnehmen, freut mich besonders.

Doch dann hatte ich wieder einmal eine schlaflose Nacht: nicht aus Angst vor dem Virus und seinen Verheerungen, sondern aus Grauen um die Zukunft Europas. Seit ich Robert Menasses Roman "Die Hauptstadt" und seine Streitschrift "Ein Landbote für Europa" gelesen habe, ist mir klar, dass die Europäische Union kein abstraktes Gebilde ist, zu dem man nur eine positive oder negative Meinung haben kann. Es gibt das Parlament, die Kommission, die EZB und den Europarat. Deshalb ist mir ebenso klar, dass es nicht "die Deutschen" sind und nicht einmal "Deutschland", das auf Grund seiner Vormachtstellung leider die größte Verantwortung trägt, das bestimmen wird, wie es mit der EU weitergeht. Die EU ist vielstimmig und sie ist entscheidungsschwach. Wird es so gelingen, zu einer starken Solidarität mit den am schlimmsten betroffenen Mitgliedsstaaten wie Italien und Spanien zu finden? Oder wird man weiter darauf bestehen, dass auch jetzt jede noch so großzügige Hilfe nicht so aussehen darf, als sei sie bedingungslos?

Ich bin Schriftstellerin, keine Ökonomin. Deshalb fühle ich mich für einen Aspekt zuständig, der mit Sprache zu tun hat: mit dem, was sie auch emotional vermittelt, und wem sie was vermittelt. Ist es prioritär, dass das, was auf europäischer Ebene verhandelt wird, den deutschen Wählern auf beruhigende Weise kommuniziert wird? Natürlich ist das wichtig, natürlich haben die Menschen in Deutschland jetzt Angst um ihre Gesundheit und ihre Zukunft. Wenn aber nicht auch den Bürgern der  anderen EU-Staaten signalisiert wird, und zwar sehr deutlich, dass ihr Leben und ihre Zukunft genauso wertvoll und rettungswürdig sind, wäre das, angesichts des Ausmaßes von Tod und Elend, das wir in Italien und Spanien erleben, das Ende der Europäischen Union.

Wie würde die Verteidigung unseres Kontinents aussehen, sollten die Mittelmeerländer aus der EU ausscheiden und sich Russland und China anvertrauen, die in Italien bereits eine Show als Retter in der Not aufgeführt haben? Geben wir uns damit zufrieden, mit Nationalklischees zu verbrämen, dass in Italien und Spanien, wie überall, die sozial Schwächsten den höchsten Preis für die Corona-Krise zahlen? Die Krankenschwestern, die Rettungsfahrer, die Putzkolonnen, die Kassiererinnen, die Postbeamten, die Lagerarbeiter bei Amazon: Das sind die Menschen, die heute oft für einen Niedriglohn ihr Leben aufs Spiel setzen, während Millionen Italiener, alle Vorurteile widerlegend, diszipliniert im Meterabstand vor den Supermärkten darauf warten, ihr letztes Geld auszugeben, ohne zu wissen, ob ihr Arbeitsplatz noch da sein wird oder sie ihren Kleinbetrieb oder Laden wieder aufmachen können. Geld oder Leben? So einfach lautet im Grunde die Frage, die über die Zukunft Europas entscheidet.

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung, für die er verfasst wurde.

  • Da JavaScript dekativiert ist, werden einige Inhalte nicht geladen.
  • Da dein Browser nicht supportet wird, werden einige Inhalte nicht geladen.
  • Auf Grund von zu geringer Bandbreite werden einige Inhalte nicht geladen.
  • Auf Grund von zu schwacher Hardware werden einige Inhalte nicht geladen.