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Tiere und andere Menschen | Tag 2

Victoria Strobl und Irene Zanol berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.
auf buchfühlung (Victoria Strobl & Irene Zanol)

09:00 Uhr – Vom Leben mit Tieren – Was heißt gut und frei?

Hilal Sezgin, Journalistin und Schriftstellerin, lebt seit einigen Jahren mit Schafen, Katzen, Waschbären, Gänsen, Schnecken und vielen weiteren Tieren auf einem Lebenshof in der Lüneburger Heide. Weil sie hier ihren Versorgungspflichten – insbesondere ihrer Schafherde mit vielen alten Tieren – nachkommen muss, ist sie für das Auftaktgespräch des zweiten Tages, das Veronika Trubel mit ihr führt, per Video zugeschaltet. Sezgen, die den Terminus Gnadenhof ablehnt, weil in ihm ein paternalistischer Gestus Tieren gegenüber mitschwingt, erzählt vom Zusammenleben mit ihren Tieren, das, so die Autorin, nicht romantisch sei und auch nur selten idyllisch. Wie sich das aktuell geltende Tierrecht, das Nutztiere immer noch als “Mittel zur Lebensgewinnung” deklariert, auswirkt, erzählt sie anhand spannender Beispiele. Die Operation eines vom Grauen Star befallenen Schafes sei ohne Ausnahmegenehmigung etwa gar nicht möglich und auch die Verabreichung mancher Schmerzmittel – genehmigt sind nämlich nur einige wenige Präparate, die nicht immer gleichermaßen wirkungsvoll seien – sind schlicht nicht erlaubt. 

Hilal Sezgin kritisiert diese staatliche Unterwerfung unserer Tiere; denn Tiere, ganz gleich ob Haus- oder Nutztiere, hätten ein Recht auf Leben ohne Unterwerfung. 

Auf die Frage, ob wir auch von Tieren moralisches Handeln verlangen dürften, antwortet Sezgin, dass reflektiertes Handeln nur von jenen Individuen erwartet werden könne, die sich diese Frage überhaupt stellen könnten. Jedes Tier, das empfindet, hätte jedoch ein Recht auf ein gutes Leben. 

10:00 Uhr – Die vierte Kränkung des Menschen

Für den zweiten Programmpunkt des Tages zum Thema “Die vierte Kränkung des Menschen” fanden sich Mara-Daria Cojocaru und Rosie Goldsmith auf der Bühne in der Minoritenkirche in Krems ein. Eva Meijer, die als zweite Autorin geladen wäre, konnte am Gespräch leider nicht teilnehmen. Cojocaru ist Lyrikerin und Philosophin und lebt mit ihren drei Hunden in Großbritannien. In ihrem Buch “Menschen und andere Tiere” (Passionate about Animals) erläutert sie, was es mit der Empathie gegenüber Tieren auf sich hat. Tierversuche und Massentierhaltung stehen dabei im Zentrum ihrer Arbeit, aber auch die Frage, warum die Einsicht des Menschen, Tierleid vermeiden zu wollen, leider nur allzu selten zur eigentlich logischen Schlussfolgerung führe, an der Supermarktkasse andere Entscheidungen zu treffen. Noch dazu, wo es auch abseits von Fragen der Tierethik triftige Gründe gäbe, Tierleid zu vermeiden: ökologische Fragen und Fragen des Umweltschutzes etwa. 

Eine Besonderheit der poetischen Arbeit Mara-Daria Cojocarus, die Rosie Goldsmith im Gespräch hervorhebt, ist ihre “animal informed poetry” mit der sie das Schreiben über Tiere erweitert, in dem sie Lyrik nicht nur über Tiere, sondern für Tiere und mit Hilfe von Tieren schreibt, also Multispecies Poetry macht. Bei gemeinsamen Spaziergängen agieren die Hunde als so genannte “führende Künstler”, die entschieden, welche olfaktorisch interessanten Gegenstände von der Lyrikerin gesammelt werden sollten. Die Namen der Straßen, in denen die Hunde etwas aufgespürt haben, werden dabei zu Gedichttiteln. 

In der Minoritenkirche sind Auszüge aus ihrer Arbeit mit Hunden im Rahmen einer Vitrinenausstellung und einer Videoprojektion zu sehen. 

11:30 Uhr – Unsichtbares Leben – Bewohner:innen der Nacht

Es ist ein sprechender Stör, den wir in der Lesung des tschechischen Autors Michal Hvorechky aus seinem Buch „Donau. Ein magischer Fluss“ kennenlernen. Inspiriert durch seine Tätigkeit als Manager auf einem der großen Donauschiffe hat er sich dazu entschieden, nach seinem ersten Buch auch im aktuellen Roman den Schätzen der Donau, dieses Mal eben aus der Sicht eines Tieres, auf den Grund zu gehen. Diesen Stör, so der Autor, hat er während seiner Recherchen als heimliches Herz des Flusses kennengelernt. Zwischen 150 und 200 Jahre wurde der Donau-Bewohner alt, als er noch in ihr heimisch war, und sein Lebensraum umfasste die ganze Länge des Flusses. Seinen Vorfahren, den großen Stör, ein noch imposanteres Tier, das die Donau Jahrhunderte lang besiedelte, gibt es jedoch auch schon lange nicht mehr. Der Ausbau von Dämmen, aber auch die Schifffahrt haben seinen Lebensraum, aber auch den seiner kleineren Nachkommen zerstört. Diesem Tier wollte Michal Hvorechky eine Stimme verleihen.

Nicht nur Verkehr und bauliche Eingriffe, Müll und Lärm zerstören den Lebensraum zahlreicher Tiere, sondern auch Erfindungen, die man nicht in direkten Zusammenhang mit Eingriffen in die Lebenswelt der Tiere bringen würde, wie jene des elektrischen Lichts und die daraus erwachsene mittlerweile massive Beleuchtung von Städten. Sie spiele eine große Rolle bei der Zerstörung des natürlichen Lebensraums nachtaktiver Tiere, wozu 60 Prozent aller Tiere zählen, so Sophie Kimmig. Die Wildtierbiologin und Autorin hat sich in ihrem 2021 erschienenen Bestseller „Von Füchsen und Menschen“ auf die Fährte des Fuchses in der Stadt gemacht. Wohingegen viele Tiere, so auch der tagaktive Mensch, vor allem während ihrer jeweiligen Tageszeiten agieren, ist der Fuchs ein wahrer “Zeitenwandler”, der sich tags und nachts wohl fühlt und so beide Welten kennt.

Dass die Nacht in der Literatur auch heute noch mit dem Bösen in Verbindung gebracht wird, führt sie in ihrem aktuellen Buch „Lebendige Nacht“ darauf zurück, dass der Mensch als tagaktives Wesen stark abhängig vom Licht sei; „Unser Sehsinn ist unser stärkster Sinn. Dunkelheit und Nacht wirken bedrohlich auf uns“, so Kimmig.

Die Frage nach einer Sprache der Tiere, die der Moderator dieses Dialogs und der Lesungen, Rainer Moritz, als DIE Frage der heurigen Literaturtage identifiziert hat, bejaht die Biologin vehement. „Menschen sind ja auch nur Tiere und haben allenfalls eine etwas komplexere Art der Sprache entwickelt. Anderen Tieren Sprache abzusprechen sei die Logik eines rein anthropozentrischen Weltbildes.“

14:30 Uhr - Verwandlungen und Seelenwanderungen

Rosie Goldsmith begrüßt am Nachmittag gleich zwei Gäste auf der Bühne: Sibylle Grimbert und Antoine Jaccoud. Grimbert, die französische Autorin und Verlegerin, hat mit “Der letzte seiner Art” (in der Übersetzung von Sabine Schwenk 2023 auf Deutsch erschienen) bereits ihren elften Roman vorgelegt. Darin beschäftigt sie sich anhand der Geschichte des Zoologen Gus und des Riesenalken Prosp mit der Frage, was es mit einem Menschen macht, wenn man auf ein Individuum trifft, von dem man weiß, dass es der letzte Vertreter seiner Spezies ist. Grimbert erzählt dabei bewusst nicht aus der Perspektive des aussterbenden Riesenalken (“For me it was absolutely impossible to be inside the penguin"), doch sie versucht zu ergründen, wie Mensch und Tier kommunizieren, erzählt vom Gefühl einen Freund zu verlieren – und zur gleichen Zeit auch die Erinnerung.

Ebenfalls um Abschied geht es in den Texten von Antoine Jaccoud, dem französisch schweizerischen Schriftsteller, Theater- und Drehbuchautor sowie Soziologen. Für das Schreiben an den Geschichten des Bandes “Der gefrorene Zulu im Diemingtal” (2022 in der Übersetzung von Alex Capus auf Deutsch erschienen) zog er aus dem Abschiednehmen, aus der Faszination des Endes große schriftstellerische Energie, so der Autor, der einen Teil aus dem Monolog “Auf Wiedersehen, Kinder” liest. 

Die beiden Gesprächspartner*innen stimmen darin überein, dass sich das Verhältnis zwischen Mensch und Tier gerade radikal ändere. Den Grund für die größere Offenheit vieler Menschen bringt Jaccoud auf den Punkt: “weil unsere Existenz jetzt gefährdet ist”. Vorsichtig optimistisch will hingegen Grimbaud bleiben, die sich nicht als Aktivistin versteht und nicht glaubt, dass Fiktion die Welt ändern könne. Doch sie schöpfe Hoffnung aus der Jugend.

19:30 Uhr - Worte und Töne: Teresa Präauer und Anna Mabo

Es war eine glückliche Konstellation auf der Bühne, die diesen zweiten Festivaltag beschloss. Und das nicht nur, weil die Regisseurin und Musikerin Anna Mabo 2018 schon die Uraufführung des Romans “Oh Schimmi” von Teresa Präauer inszenierte, sondern weil sich die Worte und Töne der beiden – bereichert um die Cello-Klänge von Clemens Sainitzer – auf der Bühne des Klangraum Krems Minoritenkirche auf beeindruckende Weise ergänzten. 

Im Gespräch mit Rainer Moritz gibt Teresa Präauer nicht nur Auskunft über die Tiere, die ihr Werk bevölkern, sondern demonstriert auch ganz nebenbei, wie bereichernd sein kann, was sie als “tänzelndes Denken” bezeichnet: im Denken die Position zu verändern, agil zu bleiben, sich selbst in Interviews mit den eigenen Antworten zu überraschen. 

Zwischen Musik und Gespräch las Teresa Präauer auch aus ihren beiden Büchern “Oh Schimmi” und “Tier werden”, die wie viele ihrer frühen Werke Tiere immer wieder thematisch aufgreifen. Die Tierfragen, so kommentierte Teresa Präauer mit einem Augenzwinkern, seien ihr jedoch irgendwann auf die Nerven gegangen, aus diesem Grund kämen sie in ihrem neuen Roman “Kochen im falschen Jahrhundert” nur in Form von Speisen vor. Sehr wohl spielten die Tiere aber im musikalischen Rahmenprogramm eine wichtige Rolle. Auf Anna Mabos’ großartige Darbietung von “Der Bär” reagierte Teresa Präauer prompt tänzelnd denkend und gab dem Publikum zwei Lektüreempfehlungen. Nastassja Martin “An das Wilde glauben” und Marian Engels “Bear” seien zwei komplett unterschiedliche Bücher, die sich mit Bären beschäftigen und in ihr die grundsätzliche Frage der Funktion von Tieren in der Literatur neu angestoßen haben. 

“Anna Mabo bringt mich zum Headbangen” – diesen Impuls löste die Musik nicht nur bei Teresa Präauer, sondern auch beim Publikum aus, das am Ende dieses Abends wohl einer Songzeile aus “Der Bär” ganz besonders zustimmen musste: “und du musst ertragen, auch wenn du das mühsam find’st, dass die Antwort auf deine Fragen immer wieder nur Fragen sind.” So umfassend das Thema “Tiere und andere Menschen” an den letzten beiden Festival-Tagen erörtert wurde, viele der Antworten eröffneten neue Fragen, denen wir uns zum Glück noch in den kommenden beiden Tagen werden widmen können. 

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