Text

Kurz. Neuigkeiten von der Gegenwart

Vortrag von Pierre Alféri. Der Keynote-Text des Internationalen Literaturfestivals Erich Fried 2015 zum Thema "Fakten und Fiktion. Literarische Reportagen".
Pierre Alféri

In Kürze.

Unsere Aufmerksamkeit, die zwischen parallel laufenden Aufgaben hin- und hergerissen, von der Vervielfältigung der Bildschirme zersplittert, von den unablässigen Verlockungen des Konsums zerstreut und durch das Hin und Her in der Stadt zerstückelt wird, hat es immer schwerer, sich auf literarische Gegenstände zu richten, selbst wenn sie erzählenden Charakter haben. Wenn man die Leserschaft in der U-Bahn ausspioniert, würde man meinen, dass nur noch Thrill mit Suchtpotenzial und Eintauchen in eisige virtuelle Realitäten funktionieren, welche die angelsächsischen und skandinavischen Krimiwälzer versprechen. Damit würde man die neuen Arten des Lesens verkennen, deren Trägermedien die Handtaschen nicht übermäßig schwer machen. Auf Notebooks, Tablets, E-Book-Lesegeräten und Smartphones sind die Mikroerzählungen in Mode, die flash fictions, die tweeteratur. Diese Kurzformen werden von Websites (wie der deutschsprachigen www.kurzgeschichten-stories.de), Online-Zeitschriften und Newsletters vertrieben, sind Gegenstand von Wettbewerben, werden innerhalb einer halböffentlichen Community ausgetauscht (durch eine tägliche Versendung an die Abonnenten, zum Beispiel bei 365tomorrows: A New Free Flash Fiction Scifi Story Every Day) und umfassen alle Genres von der Fabel bis zu Science-Fiction. Sie sind an die neuen Formate der schriftlichen Kommunikation angepasst, an die hundertvierzig Zeichen des Tweets, ans SMS, das E-Mail und den Blog. Manche Kritiker, vor allem in Lateinamerika, sehen darin sogar „die charakteristischste literarische Erscheinungsform des 21. Jahrhunderts“. Sind sie jedoch deshalb schon neue literarische Formen als solche? Welche Vorbilder haben sie? Woher stammen sie? Was sagt uns ihr Erfolg darüber aus, was heute von einer Erzählung erwartet wird? Darüber, was für uns ein Ereignis ist? Darüber, was wert ist, erzählt zu werden? Bieten diese Geschichtchen und ihre Art, es schnell hinter sich zu bringen, der Erzähltechnik die Chance einer Erneuerung, die der aktuellen digitalen Revolution entspricht? Oder sind sie nur der Staub, zu denen die abgegriffenen Formen der erzählenden Fiktion zerfallen, ihre schlimmsten Klischees, eine bedeutungslose Trivialliteratur, deren unvermeidliches Schicksal es ist, sich selbst zu zerstören wie die Botschaften von Snapchat? Das sind die Fragen, über die nachzudenken ich uns heute einladen möchte.

Non sequitur. Die verstümmelte Erzählung der Gegenwart
Vortrag von Pierre Alféri (Paris). Der Hauptvortrag des Internationalen Literaturfestivals Erich Fried Tage 2015 zum Thema “Facts and Fiction. Literarische Reportagen”, 6. bis 11. Oktober 2015, wurde als eine Kooperation zwischen Internationaler Erich Fried Gesellschaft / Literaturhaus Wien und ELit Literaturhaus Europa in Auftrag gegeben.

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