Text

Migration, Identität und die literarische Imagination

„Wir alle sind Migranten… Schriftsteller sind Migranten.”
Iman Humaydan

„Wir alle sind Migranten… Schriftsteller sind Migranten.” Mit diesen Worten schloss die schottische Schriftstellerin Alison Louise Kennedy ihre Eröffnungsrede bei den siebten jährlich stattfindenden Europäischen Literaturtagen im österreichischen Spitz ab. Während des gesamten Festivals gehörten diese Worte zu den wichtigsten Diskussionsschwerpunkten. Diskutiert wurden die Identität der Literatur und das schriftstellerische Schaffen von Migranten in Europa – insbesondere dessen Beziehung zu den neuen Orten, an denen sich die Schriftsteller befinden.

Inmitten des explosionsartigen Zustroms von Migranten und Flüchtlingen nach Europa ist dieses Thema mit den Albträumen des zweiten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends verbunden. Was vermag die Literatur? Wie spiegelt sie die Realität wider? Was ist heute die Rolle von Literatur? Oder kann ein Schriftsteller einfach sagen: „Ich schreibe Literatur, schaffe Kunst, nutze meine Vorstellungskraft. Ich habe keinen Bezug zu dem, was gerade passiert…”?

AL Kennedys Worte erinnerten mich an die „engagierte Literatur” der Siebzigerjahre, die in unseren Köpfen später mit den zusammengebrochenen ideologischen Systemen verbunden wurde – vom Fall der Berliner Mauer bis zur Erosion der Sowjetunion und den gescheiterten Regimes in der arabischen Welt. Aber das, wovon Kennedy spricht, ist gänzlich anders und aktuell. In Anbetracht der weit verbreiteten, Kunst und Kultur durchdringenden Frustration der Öffentlichkeit gibt ihre Sprache einzelnen Menschen und ihren Initiativen Raum. Dies schreibt Literatur eine Rolle, die keine Beziehung zum System hat, zu. Vielmehr kann sie Kritikerin ungezügelter Globalisierung sein, die zu einem Anstieg von Armut, Arbeitslosigkeit, sich verlagernden Kriegen sowie politischen und humanitären Flüchtlingen geführt hat.

Aber im Rahmen dieser großen Themen stellten sich mir viele Fragen zum Roman an sich. Diese Fragen müssen beantwortet werden. Ist der Roman heute ein soziologischer Mikrokosmos der marginalisierten Gemeinschaften in der Welt? Stellt er die in diesen Gemeinschaften stattfindende, von der Geschichte übersehene Gewalt – wenn auch durch das geschriebene Wort – direkt dar? Gibt es ihn, um die Neugier von sich in den Machtzentren der Welt befindenden Lesern zu befriedigen, die wissen möchten, wie das Leben in diesen Gemeinschaften aussieht? Oder sind Leserschaft und Ort eines Romans über seinen Ursprungsort und die jeweilige Sprache hinaus mit seinem literarischen und künstlerischen Wert verbunden?

Sprache
Geschichte wird in verschiedenen Sprachen geschrieben. Auch bei Gesprächen über Migration und schriftstellerisches Schaffen ist Sprache das Kernthema. In Europa gibt es Dutzende Sprachen und es bleibt folgende Frage: Gibt es so etwas wie eine europäische Literatur? Ich verstehe nicht, warum derart darauf bestanden wird, sich auf eine Bezeichnung für Literatur oder Identität festzulegen: europäische Literatur, Weltliteratur, asiatische Literatur oder welchen Begriff wir auch wählen. In erster Linie ist sie Literatur und genau darin liegt ihre Bedeutung: in ihrem Humanismus und ihrer Nähe zu den Tragödien einzelner Menschen – ihrem Dasein, ihren Träumen und Ängsten. Die Werke von arabischen Schriftstellern, die Europäer geworden sind und in Europa leben, kommen – wenn diese Schriftsteller weiterhin in ihrer Sprache schreiben – in der Debatte über europäische Literatur natürlich nicht vor.

In jungen Jahren nach Europa einzuwandern, in einem anderen als dem Heimatland zu leben und in der Muttersprache zu schreiben, ist problematisch. Es wirft Fragen über die Beziehung zwischen Schriftstellern, Orten und Gemeinschaften auf. Auch die Sicht, die Schriftsteller von sich selbst und ihren Rollen haben, kommt zum Vorschein. Viele arabische Schriftsteller haben eine Art Balance gefunden: Ich bin Flüchtling aus politischen (oder anderen) Gründen, ich schreibe in meiner Sprache und über meine Erinnerungen. Ich bin kein europäischer Schriftsteller.

Schriftsteller ziehen von einem europäischen Land in ein anderes und leben dort, da sie nicht ständig als Flüchtlinge dargestellt werden möchten. Ausgeprägter ist dies möglicherweise bei Schriftstellern, die versuchen, in den Sprachen ihrer neuen Länder zu schreiben. Rund um den Globus finden viele in den Sprachen ihrer Aufnahmeländer eine weitere Heimat und bedienen sich beim Schaffen ihrer kreativen Werke der neuen Sprache (wie Milan Kundera und Atiq Rahimi). Natürlich ist Sprache im Bereich der Literatur und in ihrer Welt der Hauptakteur. In welcher Sprache schreiben wir? Worüber schreiben wir? Für wen? Aber ist es inmitten von Gewalt und angesichts der Kommodifizierung der Kreativität nicht das Wichtigste, dass dieses Schreiben eine Vorstellung von Menschlichkeit prägt?

Schreiben und Migration
Nach meiner Unterhaltung mit dem afghanisch-französischen Schriftsteller Atiq Rahimi und der Vorführung seines Films, Stein der Geduld, entdeckte ich in seiner Beschreibung des Migrantenschriftstellers, der von einem Land in ein kulturell völlig anderes zieht, hochinteressante Möglichkeiten. Er sagte: „Je suis empaillé, ich bin ausgestopft.” Dies ist eine ironische Anspielung auf Kinderspielzeug. Nach meinem Verständnis bedeutet es: „Vielleicht bin ich beides auf einmal.” Rahimi fügte hinzu: „Ich bin kein politischer Flüchtling, sondern ein kultureller Flüchtling.” Vielleicht machen diese Worte und sein Wunsch, sich von Politik zu distanzieren, Rahimi zum Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Mündet Kultur in Politik oder ist es umgekehrt? Eine Unterscheidung zwischen beidem ist in jedem Fall schwierig.

Ebenso gibt es Migrantenschriftsteller, die nach Europa reisen, nachdem sie zum Verlassen ihrer Länder gezwungen wurden und Schriftsteller, die reisen, um neue Orte zu entdecken, neue Erfahrungen zu sammeln und über sie zu schreiben. Es sind die Menschen aus Ländern, in denen Gewalt an der Tagesordnung steht, die in ihrer Opferrolle jegliche menschliche Unterstützung durch die Welt einbüßen. Dies bewegt Schriftsteller dann dazu, die Werte der Welt um sie herum neu zu bewerten. Sie beginnen damit, ihre Welt ganz von vorne wieder aufzubauen, nachdem sie das Vertrauen in den Begriff der Menschenrechte und die Menschenrechtsgesetze verloren haben. Wir können in einer beliebigen arabischen Hauptstadt die Straße entlanggehen, um einen Tag lang am eigenen Leib zu erfahren, was ein Palästinenser, Syrer oder Iraker durchlebt. Hierdurch können wir begreifen, was das Wort Grausamkeit bedeutet, aber auch, dass solch surreale Grausamkeit die gegenwärtige europäische Vorstellungskraft übersteigt. Was bedeutet es dann, über Migration zu schreiben? Für Flüchtlingsschriftsteller bedeutet das Schreiben über Migration, den Umgang mit Konflikten zu erlernen – aber in einer anderen Sprache. Es bedeutet auch, von einem fehlenden Frieden zu träumen.

Die Globalisierung war dazu im Stande, globale Kriege durch mikro-lokale Mittel voranzutreiben. Aber es wird ihr nicht immer gelingen, diese Kriege von den Zentren der Macht fernzuhalten. Die Schwächsten werden hierdurch beeinflusst und die Stärksten werden die Konsequenzen tragen. In Frankreich kann niemand Charlie Hebdo und die jüngsten Anschläge vergessen. In Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern kommen täglich Wellen von Flüchtlingen und vor Gewalt fliehenden Menschen, zu denen die Welt schweigt, an.

An meinem letzten Tag in Spitz spazierte ich vom Hotel zum alten Schloss, in dem unsere Runden Tische und Gespräche stattfanden. Die Blätter an den Bäumen färbten sich gerade in ihren herrlichen Herbstfarben. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich täglich veränderten. Das Zwitschern der Vögel hörte sich allmählich weniger nach Sommergesang an. Der Morgen dort ist ruhig. Man muss nur das Fenster öffnen, um die Äste zu berühren, auf denen die Vögel nachts schlafen. Aber sie fliegen in den frühen Morgenstunden schnell davon.

In dieser Ruhe… kommt mir das Bild Tausender Syrer in kleinen, schneebedeckten Zelten in den libanesischen Bergen in den Sinn. Und durch die Worte von AL Kennedy ist da ein zweites Bild: der kleine Junge, der ertrank und dessen Leiche am Meeresufer gefunden wurde. Wir müssen uns von der Fiktion des Schweigens und der Gleichgültigkeit befreien. Wir müssen unsere Stimme erheben.

Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Carrel

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