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Die Drehorgel | Europa nach Corona

elit Literaturhaus Europa ladet europäische Autorinnen und Autoren dazu ein, diesen Blick unter dem Eindruck der Krise zu wagen.
Katharina Hacker

Die Tage verbringe ich in dem brandenburgischen Dorf, in dem ich eh die meiste Zeit verbringe. Es ist nicht weit von Berlin. Es ist ein großes Dorf, es ist nicht idyllisch. Manchmal bedauere ich das, in den letzten Wochen war ich dankbar über die Baustelle an der Schule direkt neben uns, sie brauchen einen Anbau, es gibt so viele Kinder, passen nicht alle rein, so wird ein helles Gebäude dazukommen.
Mein Schreibtisch steht an den Fenstern zur Straße, morgens gehen die Bauarbeiter vorbei auf dem Weg zum vormaligen Konsum und jetzigen Kaufladen. Nur zwei dürfen rein auf einmal. Ein Teil der Bauarbeiter spricht polnisch, ein anderer deutsch.
Die schweren Maschinen lassen unser altes Haus zittern und meinen Schreibtisch auch.
Zwischendurch lese ich viel zu oft in Zeitungen.

Die Welt werde eine andere sein, Europa werde anders sein.
Vor Jahren war ich auf einer Veranstaltung im Literarischen Colloquium, eine Veranstaltung für Schriftstellerinnen, ein Werkstattgespräch zum Thema: Nichts, wie es war.
Wir Wessies hatten an den 11. September gedacht.
Die Ossis an den Fall der Mauer.

Hier im Dorf hörte ich vor ein paar Tagen abends um kurz nach sechs Uhr, nachdem die Kirchglocken mit ihrem Abendläuten verstummt waren, Musik, ein bißchen zirpend fast, nicht sehr laut.
Und wie ich zuhörte, fiel mir ein, daß ein Mann – paar Häuser weiter – einmal erzählte hatte, er fahre mit seiner Frau zum internationalen Drehorgeltag nach Berlin.
Das ist eine Drehorgel, dachte ich.
Anderntags wieder, da lief ich hin, um nachzusehen.
Da stand der Mann vor der Haustür und drehte. Stoffaffe an der rechten Seite. Kurbel. Drehte eine Viertelstunde lang.
Heute ging mein Mann los, eine Tochter mit.
Ich saß im Hof, hörte die Drehorgel, dazu eine Frauenstimme.
Dann durfte unsere Tochter drehen.
Drehte In the Mood.

In ganz Europa stellen sich um sechs Uhr abends oder nach dem Abendläuten Drehorgelspieler vor die Tür spielen, mancherorts auch vor Altersheimen.
Die Drehorgelspieler, die sich ein Mal im Jahr in Berlin treffen und den Ku'damm entlang ziehen.
Spielen und teilen es auf Facebook. In Europa spielen sie und sogar in Mexiko spielte einer, Wir orgeln gegen das Corona Ungetüm.
Musik, die immer auf der Straße gemacht wurde. Schmaler Verdienst früher. Aber eine Freude für die Leute, vielleicht auf dem Markt. Oder vor dem Haus oder im Hinterhof.
Fröhliche Musik, auch wehmütige. Zu Herzen gehend, gleichmäßig muß man drehen, nicht zu langsam, nicht zu schnell.
Kraft kostet das. Ausdauer braucht es.
Früher gab es Stiftwalzen mit den Liedern, seit gut hundert Jahren Lochbänder.

Gehen Sie doch mal ans Fenster oder vor die Tür und lauschen Sie. Vielleicht haben Sie Glück, und in der Nähe spielt jemand.

Ob alles sich verändert?
Das gab's früher nicht, Drehorgelspieler, die sich vors Haus stellen, jeden Abend, um den Nachbarn eine Freude zu machen!
Ich weiß nicht, ob sich alles verändert, glaube es aber nicht.
Umso sicherer weiß ich, daß sich jeden Tag etwas zum Guten verändern könnte: Mehr Loyalität der Gesellschaft gegenüber. Dem Staat gegenüber, der wir sind. Europa gegenüber, das sind auch wir. Mehr Loyalität den Menschen gegenüber, die ein helles Wort brauchen, Geld, Schwung und Solidarität.
Es ist so viel von exponentieller Ansteckung die Rede: zum Guten ist das auch möglich. Wie, wenn wir Respektlosigkeit, Verachtung im öffentlichen Raum nicht mehr dulden? Wenn wir dafür einstehen und kämpfen, daß wir alle von gesellschaftlichem Wohlwollen abhängen?
Wie, wenn wir Mißbehagen und Mißtrauen nicht herausplärren, sondern zum Anlass nehmen, Dinge genau zu prüfen? Vorschläge zu machen? Unsere Stimme zu erheben, aber nicht, um uns selber ein Ventil zu schaffen, sondern um einen Beitrag zum Öffentlichen zu leisten?

eden Tag könnte sich etwas ändern.
Ich bin überzeugt, daß ohne Zutrauen in das gegenseitige Wohlwollen kein gesellschaftliches Leben möglich ist. Und ich bin überzeugt, daß Respekt unteilbar ist: eine bittere Täuschung, man könne einige Lebewesen verachten, andere trotzdem achten.
Fast alle Menschen, mit denen ich spreche, teilen zumindest die erste Auffassung, ungeachtet aller sonstiger Differenzen.
Wir sind, denke ich dann, so viele, die sicher sind, Wohlwollen und Vertrauen sind mit die wertvollsten Dinge in einer Gesellschaft. Wenn wir klar dafür einstehen, wenn jede nur ein oder zwei andere mit diesem Gedanken infiziert, dann sind wir genug. Es gibt, glaube ich, was im Mittelalter appetitus boni genannt wurde. In einem Land, im anderen, in Europa, um damit anzufangen, wo wir uns als Gemeinschaft denken.
Unabhängig von unserer gesellschaftlichen und ökonomischen Position, von unseren Erfolgen und Mißerfolgen.
Es ist Zeit, daß wir klar und unabweisbar immer wieder sagen, wofür wir stehen.
Es gibt, glaube ich, was im Mittelalter appetitus boni genannt wurde. In einem Land, im anderen, in Europa, um damit anzufangen, wo wir uns als Gemeinschaft denken.
Ich meine damit nicht, daß alle, auf sich zurückgeworfen, ihre Menschenfreundlichkeit entdecken. Sondern Regeln und Übereinkunft und klare Anforderung an den Umgang mit sich selbst, nämlich das, was man für richtig hält, zum Maß des eigenen Verhaltens zu nehmen. Nicht Stimmung und nicht Empfindung, schon gar nicht Müdigkeit und Mißmut, am allerwenigstens das eigene Geltungsbedürfnis.
Unabhängig von unserer gesellschaftlichen und ökonomischen Position, von unseren Erfolgen und Mißerfolgen.
Es ist Zeit, daß wir klar und unabweisbar sagen, wofür wir stehen. 

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