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Zerschnittene Welt. Stadt & Land | Tag 1

Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.
Auf Buchfühlung (Rebekka Zeinzinger & Irene Zanol)

Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol vom Literaturpodcast „Auf Buchfühlung“ berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.

Der künstlerische Leiter, Walter Grond, eröffnet die diesjährigen europäischen Literaturtage in der Minoritenkirche Krems mit dem Verweis auf kürzliche Wahlergebnisse in Österreich und den USA und den Wählerstromanalysen und fragt: Leben wir in einer gleichsam zerschnittenen Welt? In seinem Eingangsstatement konstatiert er eine Kluft zwischen der städtischen (liberal bis links-orientierten) und der ländlichen (konservativ bis rechts-orientierten) Bevölkerung. Einer von vielen Erklärungsversuchen für diese Kluft, so Grond, liege darin, dass das Dorf die Verlierer*innen der digitalen Modernisierung repräsentiere und sich mit Wissenschaftsskepsis, Irrationalismus und Demokratiefeindlichkeit an den liberalen, global orientierten Städten räche. Während manche die Kluft als eine Folge des Übergangs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft sehen, weist Grond darauf hin, dass der Stadt-Land-Konflikt existiert, seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, wovon nicht zuletzt auch die Literaturgeschichte zeugt. Ihr, der Literatur, widmen sich die europäischen Literaturtage in den nächsten Tagen ebenso wie dem Dialog, der hier Jahr für Jahr begeistert geführt wird.

Ebendieser Dialog wurde von der Philosophin Lisz Hirn (Wien) und dem Schriftsteller Christoph Peters (Berlin) eröffnet. Das Gespräch zwischen den beiden moderierte Katja Gasser (Wien). Lisz Hirn bezog sich auf den von Walter Grond eingangs zitierten Erklärungsversuch der digital abgehängten Landbevölkerung und hält fest, dass sie die Kluft eher zwischen den Besitzenden und den Nicht-Besitzenden, also als eine ökonomische Frage sehe. Sie äußerte ihr Unbehagen zur Formulierung „zerschnittene Welt“, denn sie suggeriere, dass die Welt einmal heil war. Viel mehr als nach den Gründen zu suchen, lohne es sich zu fragen, wie man die Spannung nutzen könne. Hirn sieht Potenziale darin, das Landleben wieder zu beleben, neue Wohnformen auszuprobieren oder Kunstprojekte umzusetzen. 

Auch Christoph Peters betont, dass die Trennung zwischen Stadt und Land nicht mehr so simpel sei wie einst. Blickt er auf das niederrheinische Dorf seiner Herkunft zurück, so sei dies im Grunde noch feudal geprägt gewesen. Ohne in eine postmoderne Neo-Sehnsucht nach dem Land zu verfallen, lässt sich aber feststellen, dass Vieles seitdem in Schieflage geraten sei, so Peters, der als Beispiel die kapitalistische Industrieproduktion nennt, die eine nachhaltige Erzeugung und Vermarktung von Lebensmitteln zunehmend verunmöglicht. Zum Thema Kommunikation habe er auch wahrgenommen, dass man am Land viel stärker gezwungen sei, sich in nicht homogenen Gruppen zu bewegen, die Blasenbildung sei in der Stadt eine viel stärkere Gefahr. 

Darin, dass die Landbevölkerung keineswegs digital abgehängt sei, stimmen Hirn und Peters überein. Die Philosophin führt als Beispiel Landwirt*innen an, die, weil sie von ihrer landwirtschaftlichen Produktion nicht mehr leben können, etwa ihre Scheunen umbauen und über Airbnb vermieten, Peters berichtet von seinem Neffen, der eine Viehzucht in den Rocky Mountains betreibt und einen Kaiserschnitt bei einer Kuh mithilfe eines Youtube-Videos durchgeführt habe.

Lisz Hirn betont am Ende des Gesprächs nochmals, dass der moralische “urbane Zeigefinger” nicht angebracht sei, insbesondere auch was die Forderung nach einer gleichberechtigten Arbeitsverteilung zwischen Frauen und Männern betrifft. Vieles sei nicht auf Unwillen zurückzuführen, sondern auf praktische Notwendigkeiten. Sie zu ändern, etwa indem man hinterfragt, für wen Maschinen, denen wir eine vermeintliche Neutralität zusprechen, eigentlich gebaut seien, sei eine wichtige Aufgabe. Denn in solchen Fragen steckt die Möglichkeit nach Weltgestaltung und Ermächtigung. 

Katja Gasser beendet den ersten Teil des Abends mit dem sehr treffenden Fazit: “Wir können uns sicher sein, dass dort, wo der Mensch ist, die Provinz ist.”

“Die Stadt für alle” – Krems blickt nach London, Tokyo und Prag

Über das Faszinierende an den Städten und die besonderen Herausforderungen, mit denen der urbane Raum gegenwärtig konfrontiert ist, sprach Moderatorin Rosie Goldsmith im Anschluss mit den Autoren Rowan Moore (London) und Osamu Okamura (Liberec). Dabei standen drei Metropolen beispielhaft im Mittelpunkt: London, Tokyo und Prag.

Rund 75% der Weltbevölkerung leben in Städten, sie gelten gemeinhin als Zentren von Zivilisation und Kultur sowie als Höhepunkte des Menschgemachten. Es lohnt sich also ein genauerer Blick darauf, was eine ideale Stadt auszeichnet, und worin die spezifischen Besonderheiten und Problematiken des urbanen Raums bestehen. Der tschechisch-japanische Architekt Osamu Okamura zeigte in seinen Ausführungen über Tokyo auf, wie eine der am dichtesten besiedelten Städte weltweit zugleich auch einer der funktionalsten und lebenswertesten urbanen Räume sein kann.

Für den britischen Journalisten und Architektur-Kritiker Rowan Moore ist eine ideale Stadt eine, die die Fähigkeit hat, Unterschiedlichkeiten und Diversität in sich zu vereinen. Städte sind immer unvollständig und dynamisch. Sie ziehen Menschen an, wodurch zwangsläufig auch Konflikte entstehen. Allerdings kommt es gegenwärtig auch dazu, dass Stadtzentren wieder schrumpfen – einerseits, weil die Bevölkerung immer älter wird bzw. abwandert, andererseits durch Phänomene wie zunehmend ortsunabhängiges Arbeiten, was beispielsweise für London auch ein großes Potenzial birgt – denn Wohnungen sind rar.

Damit ist auch eine der größten Herausforderungen genannt, die die Podiumsgäste in diesem ersten Impulsgespräch identifizierten: die (Un-)Leistbarkeit von Wohnraum. In den meisten Großstädten ist der Erwerb von Wohnungseigentum für eine große Mehrheit unerschwinglich geworden. In Prag, so Okamura, sei Wohnungseigentum im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung sogar europaweit am teuersten. Als Vorbild gilt Wien, das mit seinem hohen Anteil an kommunalem Wohnbau von etwa 60 % weltweit einzigartig ist. In Prag liege dieser Anteil nur noch bei etwa 5 %, trotz der jüngeren sozialistischen Vergangenheit.

Nicht zuletzt zählen der nachhaltige Umbau von Städten und Gentrifikation zu den wichtigsten Zukunftsthemen, die in den Gesprächen der nächsten Tage gewiss noch eine Rolle spielen werden.

Ein horizonterweiternder Austausch an diesem ersten Abend der Europäischen Literaturtage 2024.

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